Dass Schüler ihre Lehrer zu Tränen rühren, ist wohl eher die Ausnahme. Die jungen Künstler der Udo-Lindenberg-Mittelschule haben es geschafft. In ihrem Theater-Projekt „Unterm selben Stern“ agierten rund 100 Mitwirkende so intensiv und bewegend, dass in der Oskar-Herbig-Halle auch die Zuschauer die Tränen der Rührung kaum zurückhalten konnten. Standing Ovations waren der verdiente Lohn für ganz großes Gefühlskino, das die Mittelschüler am Donnerstag und Freitag in zwei Aufführungen auf die Bühne brachten. Es dürfte noch lange in den Köpfen der Besucher nachwirken.
Fast 30 Jahre ist es nun her, dass aus dem geteilten Deutschland wieder eine Einheit wurde. Als am 9. November 1989 die Mauer fiel, lagen sich Ost und West im Freudentaumel in den Armen. Die Glücksgefühle sind inzwischen verblasst, die anfängliche Euphorie musste der Realität weichen. Die jüngere Generation hat weder die Zeit des Kalten Krieges noch den Mauerfall selbst miterlebt. Die Rechnung von Rektor Achim Libischer, mit „Unterm selben Stern“ ein Stück deutsch-deutscher Geschichte wieder aufleben zu lassen, ist aufgegangen. Sein Hauptanliegen war es, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, wie glücklich wir uns heute schätzen können, in Frieden und Freiheit zu leben. Libischer bediente sich eines Zitats von Erich Kästner: „Die Vergangenheit muss reden und wir müssen zuhören. Vorher werden wir und sie keine Ruhe finden.“
Um den historischen Stoff für die Schüler interessant zu machen, sei eine Liebesgeschichte, die vor 40 Jahren spielt, als Deutschland noch in die zwei Länder BRD und DDR aufgeteilt war, ein guter Aufhänger. Ein Mädchen aus Mellrichstadt verliebt sich in einen Jungen aus Meiningen, doch die innerdeutsche Grenze macht ein Happy End unmöglich. Oder kann es doch ein Happy End geben? Die Kreativität scheint an der Udo-Lindenberg-Mittelschule jedenfalls keine Grenzen zu kennen. Ideengeber Achim Libischer hatte zwar das Drehbuch geschrieben (basierend auf einer Stasi-Akte aus dem Jahr 1987), die wahren Helden des Abends waren aber seine Schüler. In die begeisterten Gesichter der Kinder zu blicken, die mit Leidenschaft schauspielerten, musizierten, sangen und tanzten, ließ einem das Herz aufgehen.
Zum Einstieg versorgten Nils Hertlein und Cecile Trost das Publikum mit Hintergrundwissen, beginnend mit dem Zweiten Weltkrieg und der Teilung Deutschlands in zunächst vier Besatzungszonen. In der Ostzone wurde das Volk unter den Sowjets mehr und mehr eingemauert. Ab 1961 wurde die anfänglich grüne Grenze zu einem nahezu undurchdringbaren Sicherheitsnetz aus Zäunen, Wachtürmen, Minenfeldern und Selbstschussanlagen umgebaut, die eine Republikflucht unmöglich machen sollten. Menschen, die die DDR verlassen wollten, wurden als Straftäter angesehen und auch so behandelt.
Das Stück beginnt mit einem Videoclip, gedreht am Skulpturenpark „Deutsche Einheit“ auf der Schanz, wo zwei Schüler (Maxim Tretjakov und Hella Endres) im einstigen Todesstreifen unterwegs sind, um Fakten für ein Referat zusammenzutragen. Wie ätzend! Wen interessiert das schon? An der „Goldenen Brücke“ treffen sie auf eine ältere Dame (Nathalie Last), deren Schicksal sie tief in die deutsch-deutsche Geschichte eintauchen lässt. Es ist die Geschichte von Marion aus Mellrichstadt, die sich vor 40 Jahren unsterblich in Uwe aus Meiningen verliebte, den sie im Zuge von Verwandtenbesuchen kennengelernt hat. Doch die Grenze steht zwischen den Beiden, die sich nur schreiben, aber kaum sehen können.
Es sind sehnsuchtsvolle Zeilen, die Uwe zu Marion in den Westen schickt. Zeilen („Ich will über die beschissene Grenze direkt in deine Arme hüpfen“), die in der Briefkontrolle der Stasi aufhorchen lassen. Hier hat man es offensichtlich mit einem Kandidaten zu tun, der nicht nur ein Liebesverhältnis zu einer Bundesbürgerin pflegt, sondern sich auch mit Fluchtgedanken trägt. Schon steht die Stasi vor der Tür von Uwes Eltern. Mit den Beamten (Tobias Erhard und Laura Meyer) ist nicht zu spaßen. Es geht hier um Republikflucht, ein Kapitalverbrechen. Die Stasi-Methoden verfehlen ihre Wirkung nicht. Mit den Worten „noch eine einzige Auffälligkeit, und Sie sehen Ihren Sohn nie wieder“ werden die Werners komplett eingeschüchtert.
Indes ist Marion in Mellrichstadt im siebten Himmel. Sie hat Post vom „durchgeknallten Ost-Vogel“ bekommen, der ihr die schönsten Komplimente macht. Passend dazu hatte der Schulchor einen ersten Auftritt mit „Kompliment“ von den Sportfreunden Stiller. Marion kann ihren Vater überreden, für einen Tag mit ihr nach Meiningen zu fahren. Endlich sieht sie Uwe wieder! Was für ein wunderbares Gefühl, sich wieder in den Armen zu liegen, überzeugend gespielt von Sophia Landgraf und Jonathan Schmitt. Ein Geschenk hat Marion natürlich auch dabei: Eine Musikkassette mit „verbotener“ Musik aus dem Westen. Zu AC/DCs „Highway to hell“ und „I was made for lovin‘ you“ von KISS rockten Schülerinnen der achten Klasse die Bühne, trainiert von Lehrerin Sandra Sebald.
Unterdessen wird die Sehnsucht von Uwe immer größer. Er will frei sein, frei wie ein Albatros. Mit dem gleichnamigen Karat-Song als musikalisches Symbol für Freiheit und Grenzenlosigkeit begeisterten sieben Schülerinnen der zehnten Jahrgangsstufe. Und auf eben diese Freiheit und seine Marion kann und will der impulsive Junge nicht länger verzichten: „Manchmal muss man eben den Einsatz erhöhen, wenn man gewinnen will. Ich hau ab‘!“
Klassenkameradin Conny (Hella Endres) kann es nicht fassen: „Hat dir die Alte aus dem Westen total die Birne vernebelt? Die zieht dich an wie eine Blume die Biene. Wenn du auf eine Mine trittst, fliegst du durch die Luft wie eine Biene!“ Doch Uwe schlägt alle Warnungen in den Wind, setzt alles auf eine Karte. Seine nächtliche Flucht wird in einer Videosequenz gezeigt, die Gänsehaut erzeugt. Es fallen Schüsse, gefolgt von einem Knall. Das Publikum hält den Atem an, bleibt ratlos zurück und findet sich wieder am Mittagstisch eines Grenzbeamten (Aaron Schneider), der die Schüsse abgegeben hat. Schüsse auf einen unbewaffnetes Kind, dessen Mütze mit einem Albatros bestickt war. Die Gewehrsalve hat Uwe ins Minenfeld getrieben, wo ihm ein Bein abgerissen wurde. Das Entsetzen im Gesicht des Jungen wird der Grenzer nie vergessen. Seine Frau verteidigt sein Handeln: „Es war deine Pflicht, zu schießen.“ Ist das wirklich so?
Ein Happy End kann es nicht geben. Der verkrüppelte Uwe landet im Jugendknast und bricht den Kontakt zu Marion ab. Wie sollte auch ein 17-jähriges Mädchen Interesse an einem Albatros haben, dem die Flügel gestutzt wurden? Als sich Marion und Uwe nach der Wiedervereinigung im Jahr 1991 bei Erfurt wieder treffen, haben sie sich nichts mehr zu sagen. Die Mine hat auch ihre Liebe in die Luft gesprengt – Ende der Geschichte.
Doch damit war längst noch nicht Schluss – vielmehr sollte die wichtigste Botschaft des Abends erst noch folgen. Denn nach wie vor sind Mauern in den Köpfen vieler Menschen vorhanden. Und das betrifft nicht nur Ost und West, sondern auch die traurige Tatsache, dass neue Mauern durch Vorurteile, nationalistische Tendenzen und rechtspopulistische Parolen errichtet werden. Im täglichen Zusammenleben mit Flüchtlingen können die Mittelschüler ein Lied davon singen. Und das taten sie auch! Mit seinem neuesten Song „Wir ziehen in den Frieden“ hatte Schulpate Udo Lindenberg eine Steilvorlage geliefert. Emily Kloos sang mit glasklarer Stimme: „Wir haben doch nicht die Mauern eingerissen, damit wir jetzt schon wieder neue bauen. (…) Stell dir vor, es ist Frieden, und jeder – jeder geht hin“. 30 Jahre nach dem Mauerfall war das ein Aufruf zu einer erneuten friedlichen Revolution. Mit einem musikalischen „Feuerwerk“, zu dem sich alle Akteure auf der Bühne versammelten, sollte der Abend eigentlich enden. Eigentlich. Doch das Publikum wollte mehr, so dass als Zugabe noch der Schulsong „Ich mach‘ mein Ding“ obendrauf gepackt wurde.
Nach dem letzten Vorhang wechselten Geschenke und Dankesworte ihre Besitzer. Achim Libischer stellte namentlich das Engagement von Nadine Büttner (Gesamtleitung), Nadine Bachmann (Co-Regie, Souffleuse), Bastian Reukauf (Schulorchester), Kerstin Sauer (Chor) und Simone Haupt (Grafik und Design) heraus. Die mitwirkenden Schüler bedachten ihre Lehrer mit Präsenten, Konrektorin Melanie Dotzer würdigte das unermüdliche Engagement ihres Chefs Achim Libischer.
Die Schüler lassen ihren Worten indes Taten folgen. Aaron Schneider berichtete, dass eine Schulpartnerschaft mit einer Schule in Kenia ins Leben gerufen werden soll und bat um Spenden, schließlich war der Eintritt zu „Unterm selben Stern“ frei. Was war das für eine Sternstunde! Jedem Besucher dürfte bewusst geworden sein, wie glücklich wir uns schätzen können, dass Stacheldrahtzäune und Minenfelder der Vergangenheit angehören. Und das mit den Mauern in den Köpfen sollten wir doch auch noch hinkriegen!