Alltag in der Flüchtlingsklasse: Ute Hofmann unterrichtet jugendliche Asylbewerber an der Mittelschule Mellrichstadt.
Sie weiß am Abend nie, was der nächste Morgen bringt. Stehen da wieder drei Neue vor der Klassenzimmertür, ohne Block und Stift, dafür mit viel Hoffnung und traumatischen Erfahrungen im Gepäck? Oder fehlt, wie kürzlich nach Fasching, von einem Tag auf den anderen die Hälfte ihrer bisherigen Schützlinge?
Völlige Ungewissheit. Es ist dieses Gefühl, das die Mellrichstädter Mittelschullehrerin Ute Hofmann mit ihren Schülern – Jugendlichen auf der Flucht – verbindet. Ihren Beruf möchte sie dennoch um nichts in der Welt missen. „Es ist eine sehr anstrengende, aber auch sehr schöne Arbeit“, berichtet die 50-Jährige, die eine von drei Übergangsklassen für Jugendliche mit keinen oder wenigen Deutschkenntnissen an der Mittelschule Mellrichstadt leitet.
Vor einem Jahr hat sie sich bewusst für diese neue Herausforderung entschieden. Neben dem Unterrichten absolviert Hofmann die Zusatzausbildung Deutsch als Zweitsprache und fungiert als Migrationsbeauftragte für den Landkreis Rhön-Grabfeld. Manche ihrer Schützlinge haben nie eine Schule von innen gesehen, andere kommen aus äußerst gebildeten Haushalten. So sitzen ehemalige Schüler weiterführender Schulen neben Analphabeten auf der Schulbank. Neun verschiedene Sprachen kursieren in ihrem Klassenzimmer. Hofmann versteht keine davon, mit der Kommunikation klappt es trotzdem.
Alt genug zu fliehen, zu jung zum Zocken. Als Hofmann bei einer Exkursion den Marktplatz und das Rathaus in Mellrichstadt zeigen wollte, kam sie mit ihren Schülern am Friedhof vorbei. „Was ist das?“, fragt einer. Sie gingen hinein und diskutierten über den Tod und verschiedene Bestattungsformen statt über die Funktion eines Bürgermeisters.
„Der Lehrplan ist da nur eine Orientierungshilfe, hier geht es um Lebenspraxis“, sagt Hofmann. „Die Kinder müssen sagen können, dass sie Bauchschmerzen haben und wissen, wie sie nach der Toilette fragen.“
Auch an diesem Morgen wird engagiert diskutiert. „Aber wieso ist das so?“, fragt ein 15-jähriger hartnäckig. Am Vortag hat ihm sein Betreuer das Spielen eines Computerspiels auf der Play Station untersagt, weil es für Unter-18-Jährige nicht freigegeben ist. Nun beschäftigt sich die Klasse mit dem Thema Altersfreigabe. „Das ist eine Regel in Deutschland.“ Für den Jungen, einen unbegleiteten minderjährigen Flüchtling, nur schwer zu verstehen. Immerhin war er alt genug, den Weg allein nach Deutschland zu finden. Er hat den Krieg gesehen, was an der virtuellen Realität eines Computerspiels sollte ihn schrecken?
Es sind Fragen wie diese, mit denen Ute Hofmann und ihre Kolleginnen Anna-Lena Waldsachs und Nadine Bachmann täglich konfrontiert sind. 27 Flüchtlinge unterrichten die drei Frauen derzeit in drei Klassen an der Mellrichstädter Mittelschule. Schon morgen könnten es fünf mehr oder die Hälfte weniger sein. Abhängig ist das von den Zuweisungsmodalitäten seitens der Regierung und von freien Wohnkapazitäten in der Region.
Anfang Februar beispielsweise waren es noch an die 50 Flüchtlingskinder an der Mittelschule Mellrichstadt, weshalb dort letztlich eigene Übergangsklassen eingerichtet wurden. An allen anderen Schulen im Landkreis besuchen die Kinder die Regelklassen und werden durch differenzierende Maßnahmen gefördert.
Eine koordinierende Stelle fehlt. Das ist eines der Hauptprobleme in der Arbeit mit Flüchtlingen. „Es bräuchte eine koordinierende Stelle“, wünscht sich Hofmann. Damit das Rad nicht immer neu erfunden werden muss. Damit Ideen, Anregungen, Erfahrungen weitergegeben werden können. Damit eine größere Vernetzung stattfindet. Eine Funktion, die vielleicht auch sie als Migrationsbeauftragte des Landkreises ausfüllen könnte. „Nur wann?“, fragt sie. Vormittags unterrichtet sie selbst Vollzeit, nachmittags sind viele Verantwortliche vor allem an Grundschulen für Gespräche gar nicht mehr erreichbar.
Auch mit den Ehrenamtlichen, die die Flüchtlinge betreuen, müsste viel mehr Austausch gelingen, findet Hofmann. Es gibt unzählige Baustellen im Bereich der Flüchtlingsbeschulung. Die Elternarbeit ist eine weitere. Die Mütter und Väter müsste man – wenn vorhanden – natürlich möglichst schnell ins Boot holen. Nur: Gespräche scheitern laut Hofmann oft schon daran, dass die Familien nicht mobil sind und gar nicht bis zur Schule zum Gespräch kommen können. Darüber hinaus fehlen Dolmetscher, Telefonnummern, Ansprechpartner.
Ihre Schüler mühen sich derweil mit den Tücken des Deutschen. Mit Begleitern, schwierigen Worten wie „Geodreieck“ und dem Modalverb „können“. „Was kannst Du?“, fragt Förderlehrerin Anna-Lena Waldsachs gerade in die Runde. Ein 14-Jähriger kann es gar nicht abwarten, aufgerufen zu werden. „Ich kann Deutsch sprechen.“
Deutsch lernen in Kleinstgruppen: In der Übergangsklasse sind alle Jugendlichen auf einem anderen Stand.
Lehrerin Ute Hofmann (rechts) erstellt für jeden Schützling einen individuellen Lernplan.
Foto: Ines Renninger
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Main-Post 19.04.2016